A. Lukin: Nevezhestvo protiv Nespravedlivosti

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Title
Nevezhestvo protiv Nespravedlivosti [Unwissenheit gegen Ungerechtigkeit]. Polititcheskaja kultura russkih „demokratov“ (1985-1991) [Die Politikkultur russischer „Demokraten“ (1985-1991)]


Author(s)
Lukin, Alexander Viktorovitch
Published
Moskau 2005: Nautchnaja Kniga
Extent
501 S.
Price
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Olga Galanova, Technische Universität Dresden

Das Sprichwort ‚Unwissenheit gegen Ungerechtigkeit’ stammt von dem russischen Komiker Michail Zwaneckii, der für seinen kritischen Humor gegenüber Politikern in Russland bekannt ist. Alexander Lukin hat dieses Sprichwort bei ihm entliehen und zum Titel seines Buches gemacht.

Die fünfhundert Seiten dieses Buches unterteilt Lukin in acht Kapitel. Im ersten Kapitel grenzt er das Feld seiner historischen Quellen und der Methodologie der Untersuchung ab. Danach fasst er die Literatur zu ähnlichen Themen zusammen. Das dritte Kapitel handelt von der Entstehungsgeschichte der demokratischen Vorstellungen in der Sowjetunion. Im vierten Kapitel werden die Hauptquellen dieser Vorstellungen erwähnt. Der nächste Teil handelt vom Verhalten russischer Demokraten zum sowjetischen Staats- und Sozialsystem. Der Autor erklärt in den folgenden zwei Kapiteln ihre Grundgedanken zu einer idealen Gesellschaft und erläutert Grundüberlegungen zur Außenpolitik. Dies erlaubt ihm abschließend, einige Schlussfolgerungen über die gesamte Politikkultur russischer Demokraten zu ziehen. Am Schluss seines Buches erklärt Lukin, warum es für das vollständige Verständnis russischer Geschichte wichtig ist, das Thema der Entstehung der Demokratie in seinem Land ans Licht zu bringen. Ausgehend davon formuliert er das Ziel seines Buches, die Entstehung des politischen Vorstellungssystems über „Demokratie“ als „demokratische“ Subkultur zu beleuchten, welche sich unter Einfluss westlicher Vorstellungen über Demokratie und im Rahmen der gesamten Politikkultur des sowjetischen Staats herauskristallisiert hat. Deswegen scheint es interessant, in Lukins Argumentation über die Entwicklung demokratischer Vorstellungen in Russland den Gesichtspunkt des Kulturtransfers zu berücksichtigen und sich auf die Frage zu konzentrieren, worin Lukin die Besonderheiten russischer demokratischer Vorstellungen sieht, welche aus westlichen Gesellschaften übernommen und im Rahmen anderer politischer Systeme transformiert wurden.

Sich selbst präsentiert Alexander Lukin als engagierten Wissenschaftler, der sich für das Thema Demokratie in Russland auf Grund eigener politischer Überzeugungen interessiert. Als Gegner der kommunistischen Diktatur hat er selbst an ersten demokratischen Aktivitäten teilgenommen. Dabei weist er im Vorwort seines Buches darauf hin, dass er dachte, er habe gewusst, was Demokratie bedeute. Deswegen stellt er jedes, vom Begriff „Demokratie“ abgeleitete Wort in Anführungszeichen, um damit zu zeigen, dass Russland seinen „demokratischen“ Weg auf seine Art und Weise versteht. Denn jeder politisch Engagierte in der UdSSR bezeichnete sich als „Demokrat“, und zwar ausgehend von der Überzeugung, dass die höchste Demokratiestufe, nämlich die Sozialistische Demokratie, in der UdSSR herrsche.

Doch Alexander Lukin begründet seine Entscheidung, über die russische Demokratie in Anführungszeichen zu sprechen, indem er darauf hinweist, dass er die ontologische Frage, was der russische Demokrat sei, nicht beantworten will. Vielmehr geht es ihm um die konstruktivistische Problemstellung der Vorstellungen jener, die sich als Demokraten bezeichnet und subjektiv mit der Gemeinschaft einer „demokratischen“ Partei identifiziert haben.

Ausgehend davon diskutiert Lukin die Methodenauswahl für seine Untersuchung. Er führt qualitative Interviews mit den „ersten“ russischen Demokraten und macht diskursanalytische Untersuchungen von Zeitungsartikeln und Sendungen, Programmen verschiedener politischer Parteien und Parteitage, offizieller Erklärungen und Beiträge. Dabei erhebt er Anspruch auf Objektivität seines methodischen Verfahrens. Die Objektivität der Betrachtung erklärt er dadurch, dass er im Gegensatz zu anderen Autoren keineswegs in die ideologischen Bataillen einsteige, sondern versuche, kritisch zu bleiben und sein Thema ausgehend von historischen Quellen zu erforschen.

Jedoch kann man diesem Anspruch nicht allein dadurch gerecht werden. Vielmehr sind hier Objektivität und methodische Sauberkeit der Interpretationen wichtig. Gerade diese sind besonders problematisch, wenn die Interviews vom Autor selbst durchgeführt wurden, wie es bei Lukin der Fall ist. Hier kann die Gefahr bestehen, die Mitteilungen von Befragten und ihre Interpretationen durch eigene Erkenntnisinteressen zu beeinflussen. Der Anspruch auf Objektivität soll bei dieser Methodenauswahl überhaupt nicht angetastet werden. Er hat dem Autor sogar geschadet. So hat sich Lukin zum Beispiel bei der Interpretation des Kontextes, in welchem er die Entstehung demokratischer Vorstellungen in seinem Land beschreibt, geweigert, sich einer bestimmten Theorie des Verfalls der Sowjetunion anzuschließen. Ein deutlicher Bezug des Autors zu diesem Thema fehlt in seiner Arbeit.

Im Gegensatz zu verschiedenen Autoren, welche die Rekrutierung der Mitglieder auf der Basis persönlicher Bekanntschaft zu erklären versuchen, behauptet Lukin, dass sich die ersten demokratischen Parteien in der Sowjetunion aus der Übereinstimmung in der Gesinnung bei den Interessenten ergaben. Dies legt er in Anlehnung an seine Interviews und an die Resultate zahlreicher soziologischer Befragungen in verschiedenen Städten dar. Im Anschluss daran untersucht er den sozialen Bestand dieser ersten demokratischen Parteien. Nach den Ergebnissen soziologischer Befragungen, die der Autor in seinem Buch demonstriert, schlossen diese Parteien alle möglichen sozialen Gruppen ein. Die Mehrheit aber – etwa zwei Drittel aller Teilnehmer – machte die russische Intelligenz aus. Dies erklärt Lukin damit, dass gerade die Vertreter dieser sozialen Gruppe viel öfter als andere ins Ausland fahren und die politische Situation in der Sowjetunion mit jener in anderen demokratischen Ländern vergleichen konnten.

Außer den sozialen Charakteristika der Teilnehmer führt Alexander Lukin eine interessante Beschreibung von Persönlichkeitstypen an, die bei demokratischen Aktivitäten in der Sowjetunion sehr engagiert waren. Hier sind folgende Gruppen zu nennen: so genannte unzufriedene Wahrheitssucher, Dissidenten, nach Freiheit der sozialen Tätigkeit und Verwirklichung im Beruf Suchende, gewöhnliche Unzufriedene und Karrieristen, die sich in neuen Tätigkeitsbereichen versuchen wollten. Besonders wichtig für die Entwicklung der Demokratie war nach Lukin der Typ des „Wahrheitssuchers“, der das Potenzial der Unzufriedenheit mit dem alten System verkörpert hat. Die Hauptquelle ihres Engagements und ihrer Handlungsmotivation war die grundlegende Unzufriedenheit mit der herrschenden Ideologie, die zahlreiche Widersprüche und Spannungen in sich einschloss. Die meisten von ihnen waren gut ausgebildete Menschen, für die diese Widersprüche besonders auffällig waren, weil sie für politische Entwicklungen in anderen Ländern viel offener waren. Sie äußerten ihre aktive Kritik dagegen, dass sich die sozialistischen Moralprinzipien der nationalen Toleranz, Unbestechlichkeit und des Umweltschutzes in der Realität in ihr Gegenteil verkehrt hatten. Die meisten der Kämpfer gegen das System waren ursprünglich seine besten Schüler, seine treuesten Vertreter und aktivsten Praktiker, aber paradoxerweise nicht seine Gegner.

Alexander Lukin illustriert den kritischen Radikalismus sowjetischer Demokraten am Beispiel des Gebrauchs des Begriffs „Totalitarismus“ in demokratischen Debatten seines Landes. Während sich die meisten westlichen Beobachter des sowjetischen Systems weigerten, die Situation in der UdSSR totalitär zu nennen, ist die Bezeichnung „Totalitarismus“ in der Sowjetunion selbst fast zum Schlüsselwort in demokratischen Diskussionen und Proklamationen geworden. Die Bevölkerung hat die Werke von Marx und Lenin wieder gelesen, diesmal nicht wegen ihrer Faszination, sondern um sie zu kritisieren. Die revolutionäre Euphorie wurde durch die Idee ersetzt, das Mehrparteiensystem der Zarenzeit und seine demokratische Vielfalt ins Leben zurückzurufen, wodurch es wieder zum Ideal für die Begründung neuer Politik geworden ist.

Diese Debatten haben nach Lukin eine große Welle kritischer Umdeutungen sowjetischer Geschichte verursacht. Die UdSSR wurde mit dem chinesischen Kaiserreich gleichgesetzt und als Gesellschaft östlicher Despotie und asiatischer Produktionsweise bezeichnet. Wie Alexander Lukin bemerkt, demonstriert dies, wie schwer es den russischen Demokraten fiel, sich von der Marxschen Terminologie zu verabschieden. Denn es ist viel leichter, sich als Oppositionelle gegenüber dem Kommunismus zu bezeichnen, als aus dem System kommunistischer Vorstellungen, das seit der Schulzeit Einfluss ausgeübt hat, tatsächlich komplett auszutreten. Daher sind die Gleichsetzungen von Hitler, Stalin und Pol Pot und ihre Beschreibungen als „Dschingis Khans des zwanzigsten Jahrhunderts“ für Lukin nicht im Geringsten überraschend.

Solche Simplifizierungen der Kritik durch die neuen Demokraten betrachtet Lukin als gefährlich, weil sie zur Unterschätzung der Komplexität der Aufgaben neuer politischer Strategien geführt hat. Als Ergebnisse des Versuchs, ausgehend von dieser Kritik, das alte Regime komplett zu zerstören, nennt er den Zerfall der Staatlichkeit, die Steigerung der Kriminalität und der Nationalkonflikte im Land. Denn diese Demokratie wurde nicht als System politischer Institutionen verstanden, sondern als Instrument zum Erreichen der idealen Gesellschaft durch die auch in Zarenzeiten proklamierte Freiheit (gegen Diktatur), Gerechtigkeit (keine Privilegien für die Bürokraten), Wohlstand, moralische und geistige Vollkommenheit. Daher wundert sich Lukin nicht – im Gegensatz zu westlichen Beobachtern der politischen Situation in der UdSSR und Russland – weshalb die russische Bevölkerung so schnell von der Demokratie enttäuscht war. Denn so, wie die Vertreter der demokratischen Parteien zwischen 1985 und 1991 die ideale demokratische Gesellschaft für die Bevölkerung entworfen haben, konnten sie diese in der Realität nicht umsetzen. Mehr noch: für das Erreichen dieser idealen Gesellschaft waren die Demokraten bereit, die Bedeutung eines freien Wahlsystems in Frage zu stellen und die Priorität der Verfassung zu vernachlässigen. Daher kann man dem Autor nur zustimmen, dass trotz der demokratischen Botschaften vieler Politikern die Menschen im Grunde genommen rechtlos blieben.

Laut Lukin wollen diese neuen Reformer die demokratische Gesellschaft als Gegensatz zur reaktiven, kommunistischen Gesellschaft sehen, welche auf den Hauptprinzipien westlicher Zivilisation basiert. Gerade die Demokratie westlicher Länder sollte nach ihrer Meinung als Vorbild für die Entwicklung der eigenen Gesellschaft dienen. Die Verbreitung der Verehrung westlicher politischer Systeme verbindet Lukin mit der Popularisierung der demokratischen Einheit der westlichen Länder innerhalb dieser Länder selbst.

Ausgehend davon versucht der Autor, nach den Mechanismen zu fragen, welche die demokratische Tradition in der russischen Gesellschaft ausgelöst haben. Diese stammen nach Meinung von Lukin aus der sowjetischen Weltanschauung selbst. Dabei weist er auf das folgende Paradox hin: die oppositionelle Stimmung im Zusammenhang mit den Residuen marxistischer Ideologie haben die sowjetischen Vertreter demokratischer Parteien zu ultrarechten westlichen Einstellungen bewegt. In westlichen Massenmedien verbreitete demokratische Gedanken wurden in Russland oft in abgewandelter und verkürzter Form weiter vermittelt. Die russische Demokratie mit der westlichen zu vergleichen, bleibt für Lukin immer auf Grund kontextueller Unterschiede und zahlreicher Deutungen von Demokratie methodisch unsauber. Diese These stellt er verschiedene, heutzutage existierende politikwissenschaftliche Theorien an die Seite.

Das Buch von Lukin bietet zahlreiche Anregungen für das Verständnis der heutigen Entwicklung Russlands. Es ist gut strukturiert und in seinen Argumenten leicht nachzuvollziehen.

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29.02.2008
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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